Neulich bin ich auf den Artikel vom gewissen Luc in einer russischen Internet-Ausgabe gestoßen.
Der Mann stammt aus Großbritannien, lebt seit ca. 20 Jahren in Russland und arbeitet im Vorstand einer Personalbeschaffungsagentur. Er hat ein englischsprachiges Buch zum Pflichtthema "Warum die Russen nicht lächeln" geschrieben. Sein Artikel musste aber für ihn ins Russische immer noch extra übersetzt werden.
Wie auch immer behandelt Luc in seinem Beitrag gewisse - wie er meint - Besonderheiten der russischen Mentalität. Dabei zieht er Schlüsse, die in ihrer teilweise arroganten Ausdrucksform nicht immer nachvollziehbar und akzeptabel sind.
Darum kommt hier Lucs Expertenmeinung auszugsweise und in Form eines simulierten Dialogs, der Differenzen des heutigen Realitätsempfindens veranschaulichen soll.
Luc: Als ich zum ersten Mal nach Russland kam, suchte ich jedes Mal nach einer logischen Erklärung für die jeweilige Situation ... Es war schwer zu akzeptieren, dass es normalerweise überhaupt keinen vernünftigen Grund gab, nicht wie bei uns zu Hause. "Russland kann man mit Verstand nicht begreifen". Das ist der Spruch, den ich hier unzählige Male gehört habe.
RF: Halb so wild, Luc. Russen sind zwar keine Westler in Deinem Sinne, aber logische Erklärungen und vernünftige Gründe sind auch in Russland sehr beliebt, nicht nur bei Dir zu Hause. Und selbst wenn man einen poetischen Spruch unzählige Male hört, ist es bei weitem noch kein Grund, diesem Spruch in Bezug auf Verstand blind zu folgen.
Luc: Mein Beruf, die Rekrutierung, liefert hervorragende Beispiele für die Unterschiede in der Art und Weise, wie Menschen in Russland und im Westen Entscheidungen treffen. In Russland gilt es als völlig normal, den Job zu kündigen und den ganzen Sommer auf der Datscha (oder den ganzen Winter auf Bali) zu verbringen und erst einige Monate später nach einem neuen Job zu suchen.
RF: Es klingt so, als ob dieses "völlig normal" eigentlich völlig unnormal für Dich ist. Oder wäre der Winter auf der Datscha und der Sommer auf Bali vernünftiger? Das ist doch Geschmackssache. Und wieso darf man das nicht, wenn man das kann?
Luc: Wenn ein Westler den Lebenslauf einer [RF: russischen] Person liest, die jetzt gerade nicht arbeitet, geht er davon aus, dass entweder der Bewerber aus der vorherigen Firma rausgeschmissen wurde oder einfach faul ist. Offensichtlich wird niemand, der bei klarem Verstand ist, seinen Job kündigen, ohne vorher einen neuen Job zu finden.
RF: Ein Westler kann ausgehen, wovon er will. Hauptsache, der klare Verstand spielt bei ihm trotz dem Dichterspruch mit. Ich sehe, Du hast Dich von diesem verflixten Russlandspruch leider zu stark hinreißen lassen.
Luc: Ein Teil des Problems ist, dass das Leben in Europa oder Nordamerika teuer ist, und wir es uns einfach nicht leisten können, monatelang nicht zu arbeiten, wenn wir unsere Hypotheken zurückzahlen und unsere Rechnungen bezahlen müssen. Es scheint mir, dass die Russen die meisten Dinge nur in der Gegenwart wahrnehmen. "Ich bin müde, ich langweile mich mit diesem Job und sehe keine Karrierechancen. Warum also weitermachen?". Westler haben eine längerfristige Perspektive und glauben, dass Sie Ihre Verhandlungsposition bei einem neuen Arbeitgeber verlieren, wenn Sie mindestens einen vorübergehenden Arbeitsplatz haben. Im Allgemeinen scheinen die Russen zu glauben, dass Vorausplanung für alle Aspekte Ihres Lebens nicht nur langweilig, sondern letztendlich nutzlos in einem Land wie Russland ist, in dem sich die Dinge so schnell und oft ändern.
RF: Es gibt dafür eine viel genauere und viel kürzere Formulierung: Ihr könnt sich nicht leisten frei zu sein. Und wirkliche Freiheit erfordert sehr wohl eine ganze Menge Planungs- und Berechnungsvermögen, aber auch Mut und Optimismus. Bei zwei letzteren Begriffen kann Dir notfalls ein gutes Bedeutungswörterbuch helfen. Oder auch nicht.
Luc: Natürlich könnt ihr auch weiter nur "für heute" leben, aber denkt daran, dass Westler solche Spontaneität als irrational und unlogisch empfinden.
RF: Danke für den wertvollen Ratschlag und Deine freundlich ausgestreckte Hand, Luc! Aber gerade in grausamen Corona-Zeiten müssen selbst unpraktische Russen nicht nur an Westler-Reaktionen, sondern auch an die soziale Distanzierung denken. Also glaube ich, wenn Deine Tipps einem drei Metern am Arsch vorbei gehen, ist man dann bestens aufgehoben.
Luc: Westler neigen nicht dazu, Entscheidungen unter dem Einfluss von Laune oder Stimmung zu treffen. Fast jede Phase eines Prozesses wird von Anfang bis Ende sorgfältig durchdacht, und der Nachteil dabei ist, dass das Treffen von Entscheidungen erheblich länger dauert. Die meisten Elemente unserer Arbeit und unseres Privatlebens sind im Voraus geplant, von der Einrichtung eines privaten Rentenkontos kurz nach Beginn der Karriere bis zum Abschluss einer Versicherungspolice, die alle Arten von Unfällen abdeckt.
RF: Luc, wo ich das lese, fürchte ich fast, Du hast Deine Karrierechance trotz der sorgfältigen Planung doch verpasst. Du hättest schon vor 30 Jahren Russisch lernen und Dichter werden sollen. Damals waren Russen eher so, wie Du sie gern magst: viel naiver und irrationaler. Einige derartige westliche "Dichter" haben es in jener Zeit mit ihren "Gedichtsammlungen" sogar bis zum Kreml geschafft und dort gut abkassiert. Heute ist es dafür zu spät, glaube ich. Aber es gibt trotzdem eine gute Nachricht für Dich. Du fragst ja in Deinem Buch, warum die Russen nicht lächeln. Die Russen lächeln und lachen doch sehr gern, aber nur, wenn sie einen Grund dafür haben, wie beispielsweise beim Lesen dieser Deiner Expertenmeinung.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen